- Physiknobelpreis 1969: Murray Gell-Mann
- Physiknobelpreis 1969: Murray Gell-MannDer Amerikaner wurde für seine Beiträge und Entdeckungen zur Klassifizierung der Elementarteilchen und zu deren Wechselwirkungen ausgezeichnet.Murray Gell-Mann, * 15. 9. 1929 in New York; 1944-48 Studium an der Yale-University in New Haven, 1951 Promotion am Massachussetts Institute of Technology, anschließend Post-Doc am Institute for Advanced Study in Princeton, 1952 Assistent von Enrico Fermi an der University of Chicago, 1955 Professor für Physik am California Institute for Technology, 1987 Mitbegründer des Institute for Complexity in Santa Fe.Würdigung der preisgekrönten LeistungMurray Gell-Mann ist sehr früh als Wunderkind aufgefallen. Seine große Leidenschaft war die Klassifizierung von allem, was er vor das Auge bekam: Vögel, Insekten, Pflanzen, Münzen, Wörter und vieles mehr. In der Schule mussten die Lehrer sich daran gewöhnen, dass die Detailkenntnisse des kleinen Murray in vielen Gebieten ihre eigenen übertrafen. Damals konnte niemand wissen, dass dieser Junge dazu bestimmt war, das grundlegende Klassifikationsschema der Grundbausteine der Materie zu finden.Mit 14 Jahren begann Gell-Mann sein Studium an der Yale University. Danach promovierte er am Massachusetts Institute of Technology bei dem österreichischen Physiker Viktor Weisskopf. Dann ging er zum Institute for Advanced Study nach Princeton, wo er 1950 im Alter von 21 Jahren seine erste wissenschaftliche Arbeit veröffentlichte.Im Jahr 1953 schrieb er die erste einer Reihe von Arbeiten, die zum Nobelpreis führen sollten. Die Physiker hatten in dieser Zeit viele neue Elementarteilchen in den kosmischen Strahlen entdeckt. Manche konnten nach dem Schema der Isospin-Symmetrie, das Werner Heisenberg (Nobelpreis 1932) im Jahr 1932 in die Kernphysik eingeführt hatte, zu Gruppen zusammengefasst werden. In diesem Schema sind die verschiedenen Teilchen, die wegen ihrer ähnlichen Eigenschaften derselben Gruppe zugeordnet sind, in einem bestimmten Sinne nur verschiedene Erscheinungsformen einer zugrunde liegenden Einheit. So sind, in dieser Sprache, Proton und Neutron verschiedene Erscheinungsformen des Nucleons.Parallele zu MendelejewAber die neuen Teilchen gaben auch Rätsel auf: Manche hätten nach den damals bekannten Naturgesetzen schnell in leichtere, stabilere Teilchen zerfallen müssen. Stattdessen zeigten sie eine erstaunlich lange Lebensdauer. Gell-Mann gelang es, dieses Phänomen mithilfe einer Klassifizierung der Teilchen durch eine neue Quantenzahl zu erklären, die er Strangeness nannte. Sie muss bei Prozessen der starken Wechselwirkung erhalten bleiben und verbietet somit den schnellen Zerfall über diese Wechselwirkung. Nur in den Prozessen der schwachen Wechselwirkung kann dieses Gesetz verletzt werden, und deswegen ist nur langsamer Zerfall über die schwache Wechselwirkung möglich.In Gell-Manns Klassifizierung der Elementarteilchen gab es Kombinationen von Eigenschaften, die keine Entsprechung in der Natur fanden, es musste also Elementarteilchen geben, die damals noch nicht bekannt waren. Die Situation entsprach auf bemerkenswerte Weise der Situation in der Chemie 100 Jahre früher. Damals stellte der russische Chemiker Dmitrij Mendelejew sein Periodensystem der chemischen Elemente vor, aufgrund dessen er Vorhandensein und Eigenschaften neuer Elemente voraussagte. Gell-Manns Schema erwies sich in unserer Zeit als ebenso erfolgreich wiedamals Mendelejews: Alle vorhergesagten Teilchen sind inzwischen gefunden worden.Auf dem »achtfachen Weg«1961 schrieb Gell-Mann seine nächste bahnbrechende Arbeit. Er griff auf die mathematische Theorie der Lie-Gruppen zurück, benannt nach dem norwegischen Mathematiker Sophus Lie (1800-70), um Isospin-Symmetrie und Strangeness in einer höheren Symmetrie zu vereinheitlichen. Unabhängig davon, aber fast gleichzeitig, wurde dieses Schema von dem israelischen Physiker Yuval Ne'eman vorgeschlagen. Sie nannten das neue Schema den »Achtfachen Weg«, nach einem buddhistischen Aphorismus, der das Streben nach Einheit ausdrückt. In der Physik bedeutet dies, dass die stabilen Elementarteilchen in diesem Schema zu Oktetten zusammengefasst werden können. Die spektakuläre Entdeckung des vorhergesagten Omega-Mesons 1963 hat diese Ideen glänzend bestätigt.Die Theorie der Lie-Gruppen legte außerdem nahe, dass die Teilchen in den Oktetten aus noch fundamentaleren Bausteinen zusammengesetzt werden konnten. Diese hypothetischen Teilchen hat Gell-Mann »Quarks« getauft, nach einer Zeile aus James Joyces »Finnegan's Wake«. Der amerikanische Physiker Georg Zweig, der die Wichtigkeit dieser Bausteine ebenfalls erkannte, wollte sie »Aces« nennen.Einzelne Quarks sind bis heute nicht beobachtet worden. Es gab aber schon 1969 genügend indirekte Hinweise auf ihre Existenz. In jenem Jahr ist Gell-Mann der Nobelpreis für sein Lebenswerk verliehen worden. Er galt schon damals als die führende Figur in der Elementarteilchenphysik.Partonen und QuarksInteressanterweise erlebte Gell-Mann seinen größten Triumph nach der Verleihung des Nobelpreises. Die Quarks waren ursprünglich als bequemes Hilfskonzept eingeführt worden, um sich die Eigenschaften der Teilchen in den Oktetten zu merken. Sogar Gell-Mann sprach von ihnen manchmal als von einem mathematischen Artefakt. Die Entwicklung, die zu der Erkenntnis führte, dass die Quarks echte physikalische Größen sind, setzte schon 1967 ein. Damals wurden am Linearbeschleuniger von Stanford Experimente durchgeführt, die die Streuung von hochenergetischen Elektronen an Protonen untersuchten. Richard Feynman (Nobelpreis 1965) erkannte, dass man die Resultate dieser Experimente verstehen konnte, wenn man annahm, dass die Protonen aus punktartigen Urbausteinen zusammengesetzt sind, die er »Partonen« nannte. Erst spätere Untersuchungen zeigten, dass die Partonen weitgehend mit Gell-Manns Quarks identisch waren. Wenn man aber diese Identifikation naiv annehmen wollte, stellten sich verschiedene Fragen. Wenn man — wie die Experimente zeigten — vermutete, dass die Partonen Fermionen seien (also Teilchen mit halbzahligem Spin), so ergab sich ein Widerspruch zum wohlbekannten Pauli-Prinzip (Nobelpreis 1945). Ein weiteres wichtiges Problem lag darin, dass die Partonen als freie Teilchen behandelt werden, während die Quarks stark gebunden sein müssen, da sie nicht einzeln beobachtet werden können.1972 konnte Gell-Mann in einer Arbeit, die er zusammen mit dem deutschen Physiker Harald Fritzsch und dem Schweizer Heinrich Leutwyler schrieb, diese Probleme lösen. Sie nannten diese neue Theorie der starken Wechselwirkung Quantenchromodynamik. Die fundamentalen Teilchen in dieser Theorie sind die Quarks und die neu postulierten Gluonen. Die Quarks besitzen eine neue Quantenzahl, die als Farbe bezeichnet wurde, so dass das Pauli-Prinzip nicht verletzt wird. Ferner hat die Theorie eine Eigenschaft, die als asymptotische Freiheit bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass die Quarks — obwohl sie bei niedrigen Energien stark genug gebunden sind, um die Protonen zu bilden — bei höheren Energien nur schwach gebunden sind, so wie die Partonen.Diese und andere Aspekte der Quantenchromodynamik sind in den nachfolgenden Jahren ausgiebig getestet und bestätigt worden. Zusammen mit der elektroschwachen Theorie von Glashow, Weinberg und Salam (Nobelpreis 1979) ist sie heute ein fester Bestandteil des Standardmodells der Elementarteilchen.A. Hirshfeld
Universal-Lexikon. 2012.